Er war über die letzten 50 Jahre Mitglied (und zeitweise Ex-Mitglied) einer der größten Bands der Welt und genoss all die Annehmlichkeiten dieses Erfolgs, auch die weniger gesunden. Er hat alles erreicht, was er sich vorgenommen hatte, und mehr – heute will der Gitarrist von Aerosmith nur noch eines: spielen.
Joe Perry ist verspätet. Für einen A-Listen-Rockstar ist das nichts Ungewöhnliches, doch der Aerosmith-Gitarrero ist keine Diva. Wie sich herausstellt, hat seine Frau Billie eine Taube mit einem gebrochenen Bein bei ihrem Haus in Florida gefunden und versucht, sie zu retten. Perry hat nach einer passenden Schachtel für das Tier gesucht, um es in Sicherheit zu bringen und zu beruhigen. „Sie hat magische Hände“, sagt er über Billie, als er schließlich eintrifft und sich für die Verspätung entschuldigt. „Sie hat mal in Neuengland ein junges Kaninchen gefunden, das schon fast komplett erstarrt vor Kälte war. Sie brachte es ins Haus, massierte es unter warmem Wasser und erweckte es so wieder zum Leben. In einem anderen Jahrhundert hätte ich sie vor den Leuten mit Fackeln und Scheiterhaufen beschützen müssen.“
Der 72-Jährige trägt den Mantel des Gitarristen einer der berühmtesten, erfolgreichsten und gelegentlich entflammbarsten Gruppen Amerikas mit Leichtigkeit. Während sein Bandkollege und Toxic Twin Steven Tyler ein Plappermaul in Menschengestalt ist, gibt sich Perry ruhiger, nachdenklicher und sogar ein bisschen schüchtern. In den 70ern und frühen 80ern war das womöglich anders. Perry und seine Kumpanen waren damals permanent von einem Chemikaliennebel umhüllt, wie sich an ihren glasigen Blicken leicht erkennen ließ. Doch trotz ihrer Begeisterung für harte Drogen und den Rock’n’Roll-Lifestyle im Allgemeinen gelang es ihnen, eine Reihe absoluter Albumklassiker abzuliefern, die Exzess in Erfolg verwandelten: GET YOUR WINGS, TOYS IN THE ATTIC, ROCKS und auch DRAW THE LINE (angeblich eine Enttäuschung, aber auch sehr gut).
Perry stieg 1980 aus, doch seine Rückkehr vier Jahre später läutete einen bemerkenswerten zweiten Akt ein, der sich als noch erfolgreicher als der erste erwies. Platten wie PERMANENT VACATION (1987), PUMP (1989) und GET A GRIP (1993) verwandelten sie von amerikanischen in globale Superstars. Im 21. Jahrhundert hat sich ihr Arbeitspensum deutlich verringert – nur drei Studiowerke seit 2001, darunter die Blues Coversammlung HONKIN’ ON BOBO –, doch Perry ist nicht langweilig geworden. Neben seiner Solokarriere betreibt er die Hochkaräter-Supergroup Hollywood Vampires, die er 2012 mit Alice Cooper und Johnny Depp gründete. Während Billie im Hintergrund hereinkommt, um nach dem armen Vogel zu sehen, macht sich Perry bereit, um auf die Höhepunkte seiner faszinierenden Laufbahn zurückzublicken. „Wir wollten einfach nur ein bisschen Lärm machen“, sagt er über die Anfangstage von Aerosmith. Das ist ihnen zweifelsohne gelungen, und noch so viel mehr.
Bevor du Gitarrist wurdest, wolltest du Meeresbiologe werden. Warum?
Wir fuhren jeden Sommer an die Seen in New Hampshire, wo meine Eltern ein kleines Ferienhaus hatten, und ich liebte es einfach, im Wasser zu sein. Ich tat alles, was ich nur konnte, um zu tauchen. Als Kind sah ich die Filme von Jacques Cousteau und wollte Teil seines Teams sein. Dann hatte ich die Gelegenheit, einige der Wissenschaftler von [dem ozeanografischen Institut] Wood’s Hole [am Cape Cod in der Nähe von Boston] kennenzulernen, und sie sagten: „Wenn du das beruflich machen willst, wäre das großartig. Komm wieder, wenn du einen College-Abschluss hast.“ Aber ich war damals nicht gut in der Schule.
Hatte das etwas mit deinem nicht diagnostizierten ADHS zu tun?
Keine Ahnung. Es klappte einfach nicht, so wie damals unterrichtet wurde. Ich konnte einfach keine guten Noten bekommen, so sehr ich es auch wollte, also gab es keine Chance, es aufs College zu schaffen. Aber ich liebte Musik, liebte Rock’n’Roll, das ganze Ding, und ich spürte bereits, dass da noch mehr auf mich wartete, als nur im Publikum zu stehen.
Was löste den Wunsch in dir aus, Rock’n’Roll selber zu spielen, statt ihn nur anzuhören?
Ich war in der Schule schon immer mehr oder weniger ein Außenseiter gewesen und mir gefiel der Gedanke, eine Gang von Außenseitern zu haben. Bei den Highschool-Partys befanden sich immer die ganzen Sportskanonen auf der Tanzfläche, während ein paar Typen die Band von der Seite der Bühne aus ansahen. Das war ich. Der Rock’n’Roll war ein Ort, an den ich gehen konnte, wo niemand „Nein“ zu mir sagte. (lacht) Außer meinen Eltern. Deshalb fing ich erst relativ spät an, ernsthaft Gitarre zu lernen. Ein Star oder Idol zu sein, war mir nicht wichtig. Auf einer Bühne mit anderen Typen zu stehen und Musik zu spielen, das stand ganz oben auf der Liste.
Kannst du dich noch an deinen allerersten Auftritt erinnern?
Ich hatte eine Band zusammen mit ein paar Freunden, wir probten in unserer Garage mit Coverversionen – Dylan, The Byrds, solche Sachen. Wir spielten dann auf einer Party, wo wir in der Ecke standen. Das fühlte sich gut an. Wir drei stolperten mehr oder weniger durch die Songs, und beim nächsten Mal machten wir es dann ein bisschen elektrischer. Dann gründeten wir eine Gruppe namens Flash, beeinflusst von all den großen britischen Acts – den Beatles, den Stones. Wir mieteten den Saal des örtlichen Rathauses, und die zehn oder 20 Leute, die kamen, tanzten ein bisschen mit und keiner ging. Also dachte ich: „Das macht Spaß.“
Wie fandest du Steven Tyler, als du ihm das erste Mal begegnet bist?
Beim ersten Mal traf ich ihn eigentlich nicht wirklich. Ich arbeitete in einem Hamburgerladen in der Gegend der Seen, da machte ich alles, vom Frittieren der Pommes übers Putzen bis zum Rausbringen des Mülls. Seine Familie hatte auch ein Haus dort, eine Art Urlaubspension, und er kam jeden Sommer aus New York mit einer seiner Bands dorthin. Ich weiß noch, als sie hereinkamen und sich im Wesentlichen so benahmen, wie sie glaubten, dass Rockstars sich benehmen sollten – sie bewarfen einander mit Essen. Als sie gingen, musste ich also saubermachen. Danach lief ich ihm noch ein paarmal über den Weg. Im nächsten Sommer spielte meine Gruppe mit [dem späteren Aerosmith-Bassisten] Tom Hamilton dann in einem kleinen Club namens The Barn. Und da wurde mir Steven dann sozusagen offiziell vorgestellt. Er hatte gehört, dass die Jeff Beck Group einen neuen Sänger suchte, und ein Freund von uns fragte, ob wir für Stevens Demoaufnahmen als Backing-Band aushelfen wollten.
Was habt ihr mit ihm aufgenommen?
Wir spielten ›I’m Down‹ von den Beatles ein. Er war ein singender Schlagzeuger – und er ist ein unglaublicher Schlagzeuger. Danach blieben wir beide dann noch und jammten zwei, drei Stunden weiter. Und da sah er wohl etwas in mir, ich hatte ihn natürlich schon mit anderen Gruppen gehört. Schließlich meinte ich: Mann, wir wollen nach Boston ziehen, um dort eine Band zu gründen.“ Wir hingen zusammen auf Partys ab und sprachen darüber, und er sagte: „Yeah, ich komme nach Boston. Aber ich will nicht trommeln, sondern nur der Sänger sein.“ Darauf antwortete ich: „Das passt, denn wir haben diesen Typen aus New York namens Joey Kramer, der auch in Erwägung zieht, mitzumachen …“
Da dachtest du sicher nicht, dass du 50 Jahre später immer noch mit diesen Jungs spielen würdest.
Oh Mann, natürlich nicht. Es ist unglaublich, dass wir es überhaupt durch die ersten zwei Jahre geschafft haben. Rock’n’Roll war nichts, für das man sich entschied, um eine langfristige Karriere zu beginnen. Denk nur an all die Bands, die groß rauskamen, einen Hit hatten und dann zwei Jahre später weg vom Fenster waren. Selbst die Jeff Beck Group mit Rod Stewart. Niemand konnte sich vorstellen, dass das lange halten würde. Die Einstellung damals lautete: „Traue niemandem über 30.“ Unsere Vision bestand nur darin, den Terminkalender jeden Monat mit genug Gigs zu füllen, um die Miete bezahlen zu können.