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CAN: Klangvisionäre

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CAN: Klangvisionäre

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Vieles von dem, was uns New Wave, Progressive Rock, Punk und EBM beschert haben, geht mittelbar und unmittelbar auf die Kölner Sound-Avantgardisten zurück. Immer im Epizentrum des CAN’schen Klangtreibens: Komponist und Arrangeur IRMIN SCHMIDT.

Albumtitel, die so manchem Kenner der Rockmusik den Speichel im Mund zusammenfließen lassen: MONSTER MOVIE, TAGO MAGO, EGE BAMYASI, SOON OVER BABALUMA, LANDED, FLOW MOTION, allesamt Can-Veröffentlichungen und mithin Klassiker deutscher Rockgeschichte. Unbestritten ist, dass die Kölner Klangvisionäre Can zwischen 1968 und (mit Unterbrechung) 1989 einige der bedeutendsten und einflussreichsten Alben der Rockannalen veröffentlicht haben. „Ich sah Sonic Youth auf dem Sonar Festival in Barcelona und verstand sofort, weshalb Sonic Youth uns mögen“, erzählt Irmin Schmidt, einer von vier Can-Musikern und als ausgebildeter Komponist und Arrangeur auch einer ihrer wichtigsten Köpfe. „Die Show hat mir sehr gefallen, vor allem die zweite Hälfte des Konzerts, als Sonic Youth ein einstündiges Stück anstimmten und eine ähnliche improvisatorische Experimentierfreudigkeit an den Tag legten, die auch wir bei Can immer als essentiellen Bestandteil unserer Musik angesehen haben. Ich will jetzt nicht so weit gehen und behaupten, dass wir Sonic Youth Can verstanden haben, das wäre pure Arroganz, aber mitunter erkennt man zumindest Teile unserer Handschrift. Das freut mich dann jedes Mal sehr.“

Irmin Schmidt ist Mitte 70. Vor nunmehr 50 Jahren hat er eine umfassende klassische Ausbildung als Pianist, Dirigent und Komponist genossen. Er hat bei Karlheinz Stockhausen und György Sándor Ligeti gelernt und Zeit seines künstlerischen Schaffens klassische Neue Musik mit Rock und Jazz zu einem aufregenden Hybrid zusammengefügt. Seine kompositorischen Fertigkeiten zeigen sich aufgrund seines vorbildhaften Arbeitsethos mittlerweile in unzähligen Werken. Schmidt: „Meine Mutter hat mir früh schon eingebläut: ‚Wenn du Musiker werden willst, gehört dazu ein gerütteltes Maß an Disziplin.’ Ich bin halt Preuße und halte es ganz ähnlich wie Strawinsky: Von 7 Uhr bis 12 Uhr wird komponiert, dann gibt es eine Mittagspause, anschließend kümmert man sich um die Post.“

Schmidt kann nach eigenen Angaben auf Knopfdruck kreativ sein und wird auch deshalb von vielen Fernsehsendern, die es mit Kultur und Bildungsauftrag ernst meinen – also eben nicht RTL, SAT1, PRO7 und ähnliche Konsorten – regelmäßig für Soundtracks und Titelmelodien engagiert. Zu seinen wichtigsten Filmkompositionen gehören die Musiken in „Rote Erde“ und „Messer im Kopf“. Schmidt nennt beide Fernsehproduktionen „Eckpfeiler meines Schaffens, aber dennoch bei weitem nicht alles, was mir als wichtig und gelungen erscheint.“

Legendär ist Schmidt in Rockmusikkreisen insbesondere durch seine Mitgliedschaft bei Can. Can waren der Inbegriff des guten Geschmacks. Will man die Kölner Band und ihr musikalisches Selbstverständnis begreifen, so muss man sich neben der Arbeitsweise und dem daraus resultierenden Produkt immer auch den Anspruch der Musiker Schmidt, Jaki Liebezeit, Michael Karoli und Holger Czukay vor Augen führen. Drummer Liebezeit, der im Januar 2017 starb, formulierte seine Vorstellungen etwa in folgender Phantasie: „Mir schwebt vor, eines Tages solche Musik zu machen, die auch von Marsmenschen verstanden wird“. Bassist Holger Czukay umschrieb seine kreativen Visionen mit den Worten: „Irgendwo fügen sich alle Dinge oder alle Geräusche zusammen, zu einer Symphonie. Musik hat etwas mit Geist zu tun, ist eine geistige Sprache.“ Can waren unüberhörbar Intellektuelle, die mit völlig neuen und innovativen Vorstellungen weit mehr verkörperten, als die Rockmusik-Szene bis dato gekannt hatte. Sie artikulierten als Idee die Weiterentwicklung vorhandener musikalischer Strukturen, wollten zukunftsorientierte Klänge machen, gewissermaßen Musik fürs nächste Jahrtausend.

RESULTAT DER APO-GENERATION
Entstanden war die legendäre Formation im Juli 1968, in einer Zeit also, die von großen politischen Unruhen in Europa geprägt war. Ein Jahr zuvor hatte sich in Deutschland die so genannte APO formiert, die Außerparlamentarische Opposition. Ihre Leitfiguren waren Rudi Dutschke, Rainer Langhans und Fritz Teufel. Can passten mit ihrem intellektuellen Ansatz in diese Epoche, sie waren musikalisch anspruchsvoll, akademisch vorgebildet und keineswegs Musiker im lediglich traditionellen Sinne. Ihre elektronischen Filigran-Improvisationen unterlagen stets dem laut Irmin Schmidt selbst auferlegten Anspruch, „allen gesellschaftlichen Zwängen entgegenzuwirken“. Kreatives Domizil der Musiker war über viele Jahre zunächst das Schloss Nörvenich in der Eifel, später dann das bandeigene „Inner Space Studio“ in einem alten Kino, 20 Kilometer außerhalb von Köln. Can waren Tüftler, Experimentalkünstler, die sich von keiner Seite in ihr avantgardistisches Konzept reinreden ließen und jedwede kommerziellen Aspekte stoisch ignorierten. In den ersten fünf Jahren begnügten sie sich zum Schrecken ihrer Schallplattenfirma bei Aufnahmen mit einer alten Zweispur-Bandmaschine des Herstellers Revox.

Erst 1974 rüstete man auf ein 16-Spur-Tonband um. Speziell in England avancierten Can schon früh zu absoluten Superstars, viele britische Bands waren unüberhörbar von ihnen inspiriert. Ultravox, Simple Minds und auch David Bowie bekannten sich immer wieder zu Can als großen musikalischem Einfluss.
Es hatte durchaus geniale Züge, wenn Can via Weltempfänger und Morseapparat bei ihren Studioaufnahmen, besonders aber in ihren Konzerten, eine Symbiose aus handgemachter Musik und Kulturen-übergreifenden Radioeinspielungen herstellten. Dabei saß Czukay häufig an einer Morsetaste, über die er Rhythmus und Sequenz beeinflusste, um so quasi mit der ganzen Welt zu kommunizieren und zu musizieren. In dem Song ›Mystery‹ entwickelte er beispielsweise den Rhythmus aus dem Schrittmuster eines Menschen, der eine Treppe hochgeht. Die ersten Gehversuche der avantgardistischen Künstler erwiesen sich allerdings als kommerziell nur schwer vermittelbar.


Ihr in Eigenregie aufgenommenes Debütalbum MONSTER MOVIE war ein finanzielles Desaster. Keine Plattenfirma ließ sich zunächst für die experimentellen Klangcollagen begeistern, in einer Auflage von nur 600 Exemplaren brachten Can deshalb 1969 die Langspielplatte als Privatpressung heraus. Ein Jahr später klappte es dann doch noch mit einem Plattenvertrag, United Artists verpflichtete die Kölner auf mehrere Jahre hinaus. Ihr erster Sänger, der Amerikaner Malcolm Mooney, stand bereits Ende des Jahres kurz vor einem Kollaps und kehrte auf Anraten eines Psychiaters nach Amerika zurück. Dessen Nachfolger, der 21-jährige Japaner Kenji „Damo“ Suzuki, kam auf ähnlichem Wege zu Can, wie seinerzeit viele Newcomerbands ihre Sänger rekrutierten.

Holger Czukay erzählte später: „Ich saß mit Jaki in einem Café in München und sah Damo. Er schrie und betete irgendwie die Sonne an. Ich sagte zu Jaki: ‚Da kommt unser Sänger’. Ich ging zu Damo und fragte ihn: ‚Kannst du heute Abend zum Konzert kommen?’ Er sagte zu und kam direkt auf die Bühne. Es war ein wahnsinniges Konzert, zuerst sang Damo sehr beherrscht, es war alles sehr friedlich, er war sehr konzentriert. Dann sprang er wie ein Samurai-Kämpfer auf. Er nahm das Mikrophon in die Hand und schrie das Publikum an. Das Publikum wurde dermaßen nervös, die Leute fingen an, sich gegenseitig zu schlagen, es gab eine Prügelei und fast alle rannten raus. Es war ein herrliches Konzert.“

SPOON
Nur selten jedoch trafen die Kölner trotz überragender Fähigkeiten wirklich den Massengeschmack. Ihre Musik funktionierte in einem elitären Kreis ernsthafter Musikliebhaber, die breite Öffentlichkeit indes verstand das künstlerische Anliegen der Gruppe kaum. Und selbst ›Spoon‹, einer ihrer größten Hits, wäre beinahe dem Unverstand seines Auftraggebers zum Opfer gefallen. Denn ›Spoon‹ war als Soundtrack zum Durbridge-Kriminalfilm „Das Messer“ entstanden und eigentlich eine durch die Filmszenen festgelegte Auftragsarbeit. Irmin Schmidt erinnert sich: „Der Film wurde im Winter 1971/72 gedreht. Ich schaute mir die ersten Einstellungen gemeinsam mit dem Regisseur an, besprach mit ihm die Dramaturgie und schrieb mir in Form einer Liste Szene für Szene auf. Im Studio dann erklärte ich – quasi wie ein Märchenerzähler – den Anderen diesen Film.

Nach diesen skizzierten Vorgaben schrieben wir den Song. Wir ahnten zunächst natürlich nicht, dass es ein großer Hit werden würde, aber wir fanden den Song schon gleich aufregend und sehr neuartig. Jaki hatte mit einer Rhythmusbox gespielt und sie außerordentlich trickreich eingesetzt. Der Groove ging los wie eine Maschine. Doch der Regisseur mochte das Stück nicht, er fand es zu unkommerziell. Er protestierte, sagte schließlich: ‚Ich distanziere mich von diesem Song!’ Doch Produzent Rohrbach (u.a. Das Boot) mochte ›Spoon‹, fand ihn toll.“ Zu Recht, denn der Durbridge-Krimi zog insgesamt 32 Millionen Zuschauer in den Bann, Can profitierten davon und landeten mit ›Spoon‹ einen Singlehit, der sich weltweit mehr als 200.000 mal verkaufte.

GESEGNETER RHYTHMUS
Innerhalb kürzester Zeit etablierten sich Can in ganz Europa und galten nicht nur bei Insidern als extraordinäre Rockband, die geschickt (aber unbeabsichtigt) Kunst und Kommerz miteinander verschmelzen ließ. Im Februar 1972 gastierte die Gruppe vor 10.000 Zuschauern in der Kölner Stadthalle und fackelte ein mit Laserstrahlen, Akrobaten und Feuerwerkern bestücktes Bühnenspektakel ab. Sechs Wochen später startete die erste Englandtournee. Die britischen Gazetten überschlugen sich vor Begeisterung, fabulierten etwas von „gesegnetem Rhythmus“ und einer sich von britischen und amerikanischen Rockbands wohltuend unterscheidenden Genialität. Ihre damalige Popularität bescherte der Gruppe neben zahlreichen TV-Features auch die Einladung zur bundesdeutschen Fernsehsendung „Pop 75“. Das englische Musikmagazin „Melody Maker“ attestierte Can, „eine der fortschrittlichsten Bands dieses Planeten“ zu sein und lud die Gruppe in die britische TV-Sendung „Old Grey Whistle Test“ ein. Anschließend gab es sogar das Angebot, gemeinsam mit Pink Floyd auf Tournee zu gehen. Doch Can lehnten ab, da sie ihr Programm nicht kürzen wollten. Außerdem hielt vor allem Schmidt nicht sonderlich viel von der britischen Rockszene: „Wir hatten vor allem amerikanische Gruppen zum Vorbild, also James Brown, Sly Stone, Captain Beefheart, Zappa, Velvet Underground, Miles Davis, Jimi Hendrix, aber auch John Milton Cage oder Terry Riley. In England entdeckten wir nur wenig, was uns inspirierte.“


Im Herbst 1976 erschien FLOW MOTION, hierauf zelebrierten Can entgegen früherer, eher anarchistischer Arrangements überraschend eingängige Ton- und Rhythmusstrukturen, mit poppigen Themen im Disco-Beat oder zu Reggae- und Tangotakt. Mit der Singleauskopplung ›I Want More‹ gelang dem Quartett ein Top 20-Singlehit in England. Das gleiche Kunststück wiederholten die Kölner mit einer gleichlautenden Paraphrase von Opernkomponist Jaques Offenbachs ›Can Can‹, zu hören auf dem 78er-Album CAN. Durch den Bassisten Rosko Gee und den Percussionisten Reebop Kwaku Baah, die beide vordem der englischen Kultformation Traffic angehört hatten, bekam die Musik von Can ab 1977 einen deutlich stärker afrikanischen Einschlag. Doch bei den Kölnern begann es erstmals zu kriseln. Czukay wollte statt mit einem traditionellen Instrument lieber stärker mit Radio und Telefon experimentieren und diese Hilfsmittel in die Musik von Can integrieren. „Das Verhältnis zwischen den Musikern und dem Radio ist wirklich magisch“, orakelte er. Doch seine Mitmusiker konnten sich nicht so recht mit dem neuen Medium anfreunden, fühlten sich musikalisch bereits auf einem anderen Pfad.

„BEI UNS VERLIEF ALLES TELEPATHISCH“
Für OUT OF REACH (1978), übrigens ohne Holger Czukay aufgenommen, gab es dann auch erstmals laute Kritik seitens der Medien. Zudem ließen sich die beiden Neuzugänge nicht ins Selbstverständnis der übrigen Mitglieder integrieren. Getrennte Regelungen der Tantiemen waren im Bandgefüge vorher unbekannt gewesen, die Traffic-Profis bestanden jedoch darauf. In all den Jahren begleiteten sowohl nationale wie auch internationale Presseorgane nahezu jedes Album der Band mit uneingeschränkter Begeisterung, attestierten den Kölnern über Jahre immer wieder ihre Ausnahmestellung unter allen europäischen Rock-Acts. Wie beschrieb es Jaki Liebezeit einst so treffend: „Unser Ziel war es immer, mit der Musik die Körper in Bewegung zu bringen. Man muss zu ihr tanzen können.“ Und Karoli ergänzte: „Alles bei uns verlief telepathisch, wir dachten und fühlten quasi synchron.“

Allerdings: In den Verkaufszahlen wirkte sich diese Medienbegeisterung letztendlich nur sehr selten aus. Denn im Verhältnis zu ihrem unbestritten großen Einfluss auf die Entwicklung der europäischen Popmusik waren Can kommerziell überwiegend eher unterrepräsentiert. Ende Mai 1978 gab die Band in Lissabon vor 10.000 Zuhörern ihr vorerst letztes Konzert und pausierte anschließend bis 1986.

Für Keyboarder Irmin Schmidt ist all dieses weit mehr als nostalgisch verbrämte Vergangenheit, sondern Teil seines einzigartigen Lebenswerks. „Ich bin froh, dass ich 1937 geboren bin, auch wenn wir Anfang der Fünfziger bitterarm waren. Aber ich konnte in Paris Komposition studieren, ich war dabei, als Stockhausen die elektronische Musik für sich entdeckte, ich war dabei, als Rockmusik in den Siebzigern progressiv wurde. Ich war immer dort, wo gerade etwas Neues passierte.“

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